LAG Berlin-Brandenburg: Urteil vom 20.5.2016, Az. 6 Sa 1787/15

Entscheidungserhebliche Normen: § 138 Abs. 1 BGB, § 242 BGB, § 612 Abs. 2 BGB§ 22 Abs. 1 S. 2 Nr. 2 und Nr. 3 MiLoG

Hintergrund

Die Klägerin war als "Praktikantin" in der West-Berliner Redaktion eines Lifestyle-Magazins angestellt. Sie studierte "Modejournalistin" und bewarb sich kurz vor ihrem Abschluss für eine Stelle als "Redaktionspraktikantin" bei der Beklagten. Das Praktikum war nicht nach der Studienordnung pflichtmäßig abzuleisten.

Am 21.11.2013 schlossen die Parteien einen "Praktikanten-Vertrag", in dem die Klägerin zur redaktionellen Tätigkeit und die Beklagte zur Ausbildung der Praktikantin verpflichtet wurden. Nach dem Vertrag sollte die Klägerin acht Stunden täglich "ausgebildet" werden. Sie erhielt eine Praktikantenvergütung in Höhe von 400 Euro. Ein schriftlicher Ausbildungsplan lag dem Vertrag nicht bei.

Die Klägerin war in der Folgezeit redaktionell bei der Beklagten tätig. Eine Ausbildung habe nicht stattgefunden. Sie beantragte die Beklagte auf Zahlung des üblichen Tariflohnes einer Berufsanfängerin im Redaktionsbereich abzüglich der Praktikantenvergütung zu verurteilen.

Entscheidung

Das Landesarbeitsgericht gab der Klage statt. Es stellte fest:

  1. 1. Ein Praktikum ist nur dann kein Arbeitsverhältnis, wenn der Ausbildungszweck vordergründig sei.
  2. 2. Praktika von Absolventen einschlägiger Studiengänge, die dem Berufseinstieg dienen und i.d.R. mit üblichen Aufgaben verbunden sind, sind Arbeitsverhältnisse.
  3. 3. Der "Praktikant" trägt die Beweislast, dass in Wirklichkeit ein Arbeitsverhältnis vorliegt. Es können aber die Grundsätze der abgestuften Darlegungs- und Beweislast greifen.
  4. 4. Enthält ein "Praktikantenvertrag" typische Arbeitnehmerpflichten, trifft den Arbeitgeber die sekundäre Darlegungs- und Beweislast, dass der Ausbildungszweck überwiegt. Verstärkt wird dies durch eine fehlende Verpflichtung zum Praktikum nach der einschlägigen Studienordnung.
  5. 5. Die Voraussetzungen eines wucherähnlichen Geschäfts nach § 128 Abs. 1 BGB können vorliegen. Ist das Missverhältnis von Leistung und Gegenleistung besonders auffällig, ist die verwerfliche Gesinnung des Vertragspartners indiziert.
  6. 6. Darlegungs- und Beweislast für eine übliche Vergütung trägt der "Praktikant". Eine Schätzung nach § 287 Abs. 2 ZPO kommt nur bei ausreichenden Anknüpfungstatsachen in Betracht.

Begründung

Die Vergütungsvereinbarung der Parteien sei nach § 138 BGB i.V.m. § 134 BGB nichtig. Es läge ein wucherähnliches Geschäft nach § 138 Abs. 1 BGB vor. Dazu müsse einerseits ein auffälliges Missverhältnis von Leistung und Gegenleistung und eine verwerfliche Gesinnung des Begünstigten vorliegen.

Das auffällige Missverhältnis ergebe sich aus dem Vergleich der gezahlten Vergütung (400 Euro) und dem üblichen Tariflohn (3000 Euro).  Damit erreiche die Vergütung nicht einmal zwei Drittel des zu zahlenden Lohnes. Eine verwerfliche Gesinnung des Vertragspartners (Arbeitgebers) sei damit indiziert. Sie sei auch nicht von der Beklagten widerlegt worden. Eine weitreichende Praxis des Geschäftsverkehrs in dieser Hinsicht ("Generation Praktikum") sei keine Rechtfertigung.

Der Tariflohn sei bei Üblichkeit heranzuziehen. Das sei der Fall, wenn über 50% der Arbeitgeber tarifgebunden seien oder wenn die organisierten Arbeitgeber mehr als 50% der Arbeitnehmer des Wirtschaftsgebietes beschäftigten. Hier sei der Tariflohn der GTV Zeitschriften verkehrsüblich und einschlägig.

Der Lohn sei geschuldet, weil das "Praktikumsverhältnis" hier in Wirklichkeit ein Arbeitsverhältnis i.S.d. § 611 BGB sei.

Die Gründe dafür seien:

Typische Arbeitnehmerpflichten im Vertrag

  • Tägliche Arbeitszeit von acht Stunden
  • Weisungsgebundenheit gegenüber dem Arbeitgeber
  • Nachweis der Arbeitsunfähigkeit durch Bescheinigung
  • Übliche Tätigkeit eines Arbeitnehmers
  • Vergütungsvereinbarung
  • Übliche Urlaubsregelung

Nicht-Überwiegen des Ausbildungszwecks

  • Ein Ausbildungsplan wurde im Vertrag nur genannt, lag dem aber nicht bei.
  • Eine Besprechung des Plans zu Beginn des "Praktikums" ergebe kein Überwiegen des Ausbildungszweckes.
  • Der vorgetragene "Ausbildungsplan" sei zu unbestimmt. Er müsse einen Plan für die wesentlichen Ausbildungsabschnitte in zeitlicher und inhaltlicher Hinsicht darstellen. Inhaltlich sei zu bezeichnen, welche Methoden in welchem Kontext und an welchem Arbeitsplatz vermittelt werden sollen.
  • Schlagwörter wie "Permanentes Kommunikationstraining", "Kommunikationsausbildung" und "Mediale Kommunikation" seien unzureichend.
  • Vollzug des Praktikums überwiegend nach Studienabschluss
  • Keine Vorschrift der Studienordnung hinsichtlich eines entsprechenden Pflichtpraktikums
  • Vertragsdauer: Praktika seien nach § 22 Abs. 1 S. 2 Nr. 2 und Nr. 3 MiLoG nur vorübergehend ("bis zu drei Monate")
  • Vertraglich vereinbarte Freistellungspflichten für den Universitätsbesuch hätten nur auf dem Papier gestanden (insbesondere weil die Praktikantin kurz vor Abschluss des Studiums ihre Stelle angetreten habe)

Diese Punkte ließen klar auf ein Arbeitsverhältnis schließen. Darum träfe die Beklagte die sekundäre Darlegungslast, dass die Vertragsdurchführung tatsächlich kein Arbeits- sondern ein Ausbildungsverhältnis war. Selbst bei Unterstellung der Durchführung des vorgetragenen "Ausbildungsplanes" ergäbe sich kein überwiegender Ausbildungszweck. Der Ausbildungsplan sei nämlich zu unstrukturiert und unbestimmt.

Der Vergütungsanspruch folge aus Nichtigkeit der Abrede § 138 BGB i.V.m. § 134 BGB und der Anknüpfung an die übliche Vergütung gem. §§ 611, 612 Abs. 2 BGB.

Der Klägerin sei es nach § 242 BGB (Treu und Glauben) nicht verwehrt den Anspruch geltend zu machen. Sie handele weder treuwidrig noch widersprüchlich, wenn sie ihren Lohn erst nach dem "Praktikum" einklage. Es sei kein Vertrauenstatbestand bei der Beklagten entstanden. Vielmehr sei es typisch, dass während eines Scheinpraktikums keine höhere Vergütung verlangt werde. Die Scheinpraktikanten befänden sich in einer Zwangslage (mangelnde Rechtskenntnis, Hoffnung auf Festanstellung, Hoffnung auf gutes Praktikumszeugnis).

Nach § 286, 288 BGB sei der Anspruch zu verzinsen.

Auswertung/ Empfehlung

Das LAG setzt in seiner Entscheidung die Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichtes vom 13.03.2003, Az. 6 AZR 564/01 ("Orchesterpraktikantin") fort.

Es nennt Kriterien, anhand derer das Vorliegen eines Scheinpraktikums geprüft wird:

  • Erstens ist auf die Pflichten des Praktikanten zu achten: Entsprechen sie denen eines normalen Arbeitnehmers?
  • Zweitens ist die Stellung des Ausbildungszweckes zentral: Steht die Ausbildung nach Vertrag und tatsächlicher Durchführung im Vordergrund?

Hier ist unbedingt dazu zu raten, den Ausbildungszweck klar zu bezeichnen und einen strukturierten und bestimmten Plan der Ausbildung zu verfassen. Dieser Plan ist dem Praktikumsvertrag schriftlich beizulegen und natürlich auch durchzuführen.

Sprechen die Erkenntnisse aus dem "Praktikanten-Vertrag" und dem Vortrag des "Praktikanten" im Hinblick auf die beiden oben genannten Punkte für das Vorliegen eines Arbeitsverhältnisses, so trifft die Darlegungs- und Beweislast für ein Ausbildungsverhältnis nunmehr den Arbeitgeber.

Despina Triantou, LL.M (Heidelberg), Rechtsanwältin